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04 Mai 2023

Auf dem Weg zu geistlicher Reife

Was bedeutet es, geistlich reif zu sein? Wer zuerst an kraftvolle Wunder und Zeichen denkt, wird durch die biblischen Geschichten ziemlich vor den Kopf gestossen.

Verwirrt sitze ich da und versuche einzuordnen, was ich eben gelesen habe. Es war weder eine Schreckensnachricht noch irgendein Enthüllungsskandal, sondern es ging um geistliche Reife. Dabei hat der freie Abend doch so gut begonnen: Voller Freude holte ich das Buch des Ober-Rabbiners Jonathan Sacks rund um das Thema «Verantwortung» hervor und begann genüsslich zu lesen, während Keith Jarrett virtuos auf dem Klavier klimperte. Doch dann kam der Abschnitt über geistliche Reife, dargestellt am Beispiel des Volkes Israel.

Ein Weg zur Reife

Die Aussage war so klar wie provozierend: Die Zeit der grossen Wunder im Leben Israels – also die Zeit rund um den Auszug aus Ägypten mit der Teilung des Roten Meeres, den Wundern in der Wüste (Manna, Wasser aus dem Felsen etc.) – das war die Zeit der Unmündigkeit und Unreife Israels. Da erlebten sie Wunder über Wunder, aber trotzdem vertrauten sie dadurch Gott keinen Deut mehr. Vielmehr murrten sie dauernd, wollten lieber nach Ägypten zurück und machten sich ein Kalb.

Ein wenig besser wurde es, als die Wunder aufhörten und Gott durch Propheten zu seinem Volk sprach. Aber ein richtig geistlicher Höhenflug war auch diese Zeit nicht: Die erfolgsversprechenden Götzen der Nachbarn stellten eine zu grosse Verlockung dar.

Richtig mündig und geistlich reif wurde Israel erst, als Gott aufhörte, durch Propheten zu ihnen zu sprechen, wie auch Wunder für sie zu vollbringen. Erst dann lernte Israel, Verantwortung für sich, die Welt (und zwar für eine Welt, die dem jüdischen Volk oft alles andere als gut gesinnt war) sowie Verantwortung für Gott (ja, so formuliert es Sacks) zu übernehmen.

Vergleich mit Jesus

In mir steigen tausend Einwände zu seiner These auf, doch dann lasse ich mich auf den Gedanken ein und wende mich dem Leben von Jesus Christus zu. Jesus musste zuerst klären, welche Art von Messias er sein wollte. Während 40 Tagen in der Wüste bestand die Versuchung für Jesus zweimal darin, durch das Vollbringen eines Wunders einen falschen Weg einzuschlagen. Dabei wäre es doch ein Knüller gewesen, Steine in Brot zu verwandeln und damit das Hungerproblem von ihm und der Welt zu lösen. Doch bei der Speisung der 5000 zeigte er uns den besseren Weg: Wer hat – wenn auch nicht im Überfluss – teilt mit denen, die nichts haben, und so reicht es am Ende für alle.

Bei der zweiten Versuchung ging es um die Chance für den Beweis seiner Göttlichkeit: öffentlich vom Tempel zu springen und von Gott aufgefangen zu werden. Ihn krass zu finden, ist in den Augen von Jesus offensichtlich etwas anderes, als ihm sein Leben anzuvertrauen, und das eine führt nicht zwingend zum anderen.

Auch die Evangelien spiegeln diesen Weg:

  • Bei Matthäus ist es offensichtlich, dass er trotz aller Wundererzählungen rund um Jesus eine gewisse Skepsis gegenüber Wundern hat. Als es hart auf hart kommt, lässt Jesus in der Bergpredigt die Berufung auf Wunder nicht gelten. Was zählt, ist einzig und allein die Nachfolge und, damit verbunden, ein Leben der Liebe (Matthäus 7,21-23).
  • Johannes gliedert sein Evangelium in zwei Teile, und obwohl im ersten Wunder erzählt werden, kritisiert Jesus: «Ihr glaubt mir nur, wenn ihr aufsehenerregende Wunder seht» (Johannes 4,48), um ein wenig später nachzudoppeln: «Ihr sucht mich nicht, weil ihr meine Wunder als Zeichen verstanden habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid» (6,26). Im zweiten Teil werden überhaupt keine Wunder mehr erzählt. Dort dreht sich alles nur noch um die ganz andere Art der Herrlichkeit Gottes, wie sie in der Passion von Jesus sichtbar wird.
  • Auch Markus weiss, dass die erlebten Wunder aus dem ersten Teil seiner Erzählung nicht zwangsläufig zu Einsicht und geistlicher Reife führen (Markus 6,52). Zudem zweifeln die Bewohner von Nazareth keinen Moment daran, dass Jesus heilen kann, und doch vertrauen sie ihm nicht als Sohn Gottes und Retter der Welt (6,5).
  • Bei Lukas wiederholt sich, was in den anderen Evangelien schon der Fall ist: Jesus greift heilend und rettend im Leben vieler Menschen ein, aber das führt längst nicht bei allen dazu, dass sie ihm vertrauen und zu geistlich reifen Personen werden.

Was macht hier Schlagzeile?

Schliesslich komme ich zum Zentrum unseres Glaubens: Jesus am Kreuz. Da hängt er, unschuldig verurteilt und voller Schmerzen. Die Leute rund um ihn spotten und fordern ihn auf, seine Macht unter Beweis zu stellen und vom Kreuz herunterzusteigen. Das wäre doch eine Schlagzeile: Zum Tod Verurteilter steigt vom Kreuz herab und beweist dadurch seine Göttlichkeit! Macht er aber nicht, dafür anderes:

Mitten in allem Unrecht, das ihm angetan wird, betet er für seine Mörder: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Damit entlässt er seine Mörder aus der Verantwortung für ihre Schuld.

Zudem wendet er sich einem der Mitgekreuzigten zu und gibt ihm Hoffnung, indem er ihn in seine eigene Zukunft hineinnimmt: «Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein». Mitten im Leid entsteht so eine neue Gemeinschaft, deren Grundlage weder gegenseitige Sympathie noch gegenseitiger Nutzen, sondern Zuwendung ist.

Schliesslich die mich immer wieder ergreifende Szene: Mitten im eigenen Leid sieht Jesus das Leid seiner Mutter, die mitansehen muss, wie ihr Kind umgebracht wird. Er sieht auch den Jünger, zu dem er eine ganz besondere Beziehung hat, der ebenfalls verwirrt und voller Entsetzen sieht, was sich vor seinen Augen abspielt. Jesus wendet sich den beiden mit den Worten zu: «‘Frau, er ist jetzt dein Sohn!’ Und zu dem Jünger sagte er: ‘Sie ist jetzt deine Mutter!’ Von da an nahm der Jünger sie bei sich auf.» Durch die Zuwendung an die beiden entsteht eine neue Gemeinschaft der gegenseitigen Verantwortung unter ihnen.

Meine Learnings

In Sachen «geistliche Reife» zählen offensichtlich andere Dinge mindestens ebenso viel wie Zeichen und Wunder. Wer im Wunder das Zeichen von Gottes Reich nicht erkennt, für den ist es bestenfalls krass, aber nicht mehr. Eine geistlich reife Person hingegen hat geübte Augen und sieht die Zeichen von Gottes Reich im Handeln von Jesus und Wirken des Geistes unter uns – selbst dann, wenn es so unbeeindruckend daherkommt wie ein Senfkorn. Geistliche Reife erkennt in dem, was in unserer Welt nichts gilt, das Angesicht Gottes (Jesaja 53).

Sie hat mehr damit zu tun, mein ganzes Leben Jesus vorbehaltlos anzuvertrauen, als ihm irgendeinen «Special Effect» zuzutrauen. Anders ausgedrückt: Ich glaube nicht, dass Jesus rettet und heilt, sondern ich vertraue mein Leben Jesus an, der rettet und heilt – gerade in seiner radikal anderen Art und Weise, wie er Macht auslebt: verzichten statt fordern, vergeben statt nachtragen, vertrauen statt vorsorgen, geben statt nehmen.

Zum Leben – und auch zu einem Leben mit Gott – gehören schwierige Zeiten, dunkle Momente und Leid. Sowohl als Konsequenz unserer Nachfolge wie auch als ganz normaler Teil des Lebens. Nicht immer greift Gott ein, nicht alle werden geheilt oder können ihre Krankheit zuversichtlich ertragen. Manche Menschen zerbrechen am Schweigen Gottes, und von ihnen zu fordern, dass sie mehr vertrauen müssen, ist lieblos und zynisch. Eine geistlich reife Person lernt, Momente des Schweigens Gottes genauso in ihre Gottesbeziehung zu integrieren wie sein Reden. Mehr noch: Sie lernt, denen, die Gottes Gegenwart nicht erleben, zur Gegenwart Gottes zu werden (Römer 8,18-30).

Erfüllt mit Staunen

Gott ist deshalb nicht einfach die fromme Variante des heutigen Optimierungs- und Maximierungstrends, mit dem alles immer nur besser wird. Er ist Gott und bleibt uns als solcher unverfügbar und auch Geheimnis. Das mussten selbst die Jünger nach Ostern erkennen: Als sich Jesus zweien von ihnen näherte, erkannten sie ihn zuerst nicht. Erst «als er dann mit ihnen zu Tisch sass, nahm er das Brot, sprach das Segensgebet darüber, brach es in Stücke und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn. Aber im selben Augenblick verschwand er vor ihnen» (Lukas 24,30-31). Momente der Gottesbegegnung sind und bleiben ein Geschenk, wir verfügen nicht über sie, noch können wir sie herbeiführen oder festhalten. Im schlimmsten Fall können wir sie verhindern, aber wenn wir sie erleben, dann erfüllen sie uns mit Staunen, Freude, und sie führen uns in die Verantwortung Gott und all jenen Menschen gegenüber, die dringend eine Gottesbegegnung brauchen, um am Leben nicht zu zerbrechen.