Über unseren Hang, Gott auf das Unerwartete zu reduzieren. Eine #echtjetzt?-Kolumne
Als Kind bekam ich in einem Neujahrsgottesdienst einen Teller mit verdeckten Bibelversen gereicht. Neugierig zog ich einen und las: «Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.» Ich verstand den Satz nicht und dass der Teufel darin vorkam, stresste mich. Eine Woche später war ich in einem anderen Gottesdienst zu Besuch, und wieder kam ein Kartenteller. In der Hoffnung auf etwas Besseres griff ich zu, und siehe da: wieder der genau gleiche Vers!
Bei einigen schrillt sofort der «Das hat etwas Wichtiges zu bedeuten»-Alarm. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man aus der Fülle an Versen zweimal den gleichen zieht. Und weil es unwahrscheinlich ist, vermuten wir Gott dahinter. Manche Wendung im Leben ist solchen Unwahrscheinlichkeiten geschuldet. Ein zufälliger Blick auf ein Jobinserat. Der spontane Entscheid zur Reise, auf der ich meine Frau kennenlerne. Ein platter Reifen, der mich das später abstürzende Flugzeug verpassen lässt.
Doch Ist Gott in ihnen wirklich stärker präsent als im Wahrscheinlichen und Erwartbaren? Schliesslich ist es ziemlich wahrscheinlich, dass ab und zu etwas Unwahrscheinliches passiert. Zudem reduziert diese Haltung Gottes Wirken still und heimlich aufs Aussergewöhnliche, und das wäre ein herber Verlust.
Ich geniesse den Zauber der überraschenden Momente im Leben durchaus, aber zu einem Glauben und einer Zeugniskultur, die in ihnen Gott mehr am Werk sehen als in der stinknormalen Alltagsroutine, würde ich sagen: Echt jetzt?