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Huber
29 Nov 2022

Religiosität und Spiritualität verschwinden? Mitnichten!

Prof. Dr. Stefan Huber vom Institut für empirische Religionsforschung der Universität Bern hat zu dieser Frage geforscht und kommt zu einem überraschenden Schluss.

In der westeuropäischen Kultur liegen zurzeit zwei soziologische Haupttheorien über die Zukunft der Religion auf dem Tisch. Zum einen ist da die Säkularisierungsthese, die besagt, dass die Religiosität der Menschen, je moderner sie werden, mehr und mehr abnimmt. Auf der anderen Seite ist die Individualisierungsthese, die behauptet, dass die Religiosität des Menschen mehr oder weniger gleichbleibt, diese aber zunehmend individuell gestaltet wird.

Menschen bleiben spirituell

Um diese Thesen zu überprüfen, hat Prof. Dr. Stefan Huber repräsentative Umfragen aus den letzten 60 Jahren ausgewertet und auch selbst einige durchgeführt. Sein Fazit: die Vertreter der Säkularisierungsthese gehen fälschlicherweise bloss von den religiösen Institutionen aus. Sie nehmen an, dass Religion ein Phänomen ist, das vor allem auf der religiösen Sozialisation basiert. Wenn die Kirchenmitglieder oder Gottesdienstbesuche abnehmen, schliessen sie daraus, dass auch die Religion abnimmt. Huber hält dagegen, dass spirituelle Erfahrungen eine Quelle der Religiosität ist, die auch unabhängig von religiösen Institutionen da ist und weitersprudelt. Das führt dazu, dass die Form der Religiosität sich durchaus verändern kann, jedoch auch in unserer Zeit nicht abnimmt. Er stützt seine These unter anderem auf folgende Beobachtungen:

  • Die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche ist in den vergangenen 50 Jahren markant von 98 auf 67 Prozent zurückgegangen. Das gleicht einer religiösen Revolution. Insbesondere die Reformierte Kirche ist massiv geschrumpft. Im Bereich des Christentums sind einzig die Freikirchen und die Orthodoxen Kirchen gewachsen. Dagegen ist die Anzahl Menschen, die sich keiner Konfession zugehörig zählen, stark gestiegen. Dieser Trend dürfte sich auch in den nächsten Jahren noch fortsetzen, wie die Aufteilung nach Altersgruppen zeigt. Diese Beobachtungen sprechen auf den ersten Blick für die Säkularisierungsthese.
  • Auch die Frequenz der Gottesdienstteilnahmen ist in den letzten 50 Jahren stark gesunken. Beispielsweise von den Katholiken haben 1970 gut zwei Drittel wöchentlich einen Gottesdienst besucht. 2019 waren es gerade noch 11 Prozent. Das kommt einem Zusammenbruch der Katholischen Gottesdienstpraxis gleich. Auch dieses Resultat stützt die Säkularisierungsthese.
  • Gefragt nach dem Glauben an Gott, eine höhere Macht oder ein «transzendentes Prinzip» ist der bejahende Anteil vergleichsmässig nur wenig gesunken. Von rund 83 Prozent (1968) auf rund 73 Prozent (2008). Wird auch ein Glaube dazugerechnet, der gewisse Zweifel einschliesst (1968 war nur ein Ja oder Nein möglich), liegt die Zustimmung auch 2008 immer noch über 80 Prozent.
  • Geht es um die Frage, was nach dem Tod kommt, bleibt der Anteil derer, die an ein Leben nach dem Tod glauben, seit 50 Jahren ungefähr konstant (rund die Hälfte). Öffnet man die Frage konkret mit verschiedenen Vorstellungen (von Auferstehung über Reinkarnation bis zu Geisterglauben), ist der tendenziell bejahende Anteil zu einer dieser Vorstallungen der Bevölkerung zwischen 1988 und 1999 sogar von 70 auf rund 77 Prozent gestiegen. Das steht im Widerspruch zur Säkularisierungshypothese, gemäss welcher solche Vorstellungen kontinuierlich abnehmen müssten.
  • Ebenso ist es bei «transzendentbezogenen Praxiskonzepten». Man hat Menschen folgende fünf Fragen/Aussagen gestellt: «Glauben Sie, dass es religiöse Wunder gibt?» «Glücksbringer bringen manchmal Glück.» «Es gibt Wahrsager, die die Zukunft wirklich voraussehen können.» «Manche Wunderheiler verfügen tatsächlich über übernatürliche Heilkräfte, die sie von Gott bekommen haben.» «Das Sternzeichen bzw. das Geburtshoroskop eines Menschen hat einen Einfluss auf den Verlauf seines Lebens.» Auch 2009 bejahen rund 80% der Befragten mindestens eine dieser Fragen/Aussagen.
  • Selbst in der Gruppe der Konfessionslosen rechnen 77 Prozent mit der Existenz einer spirituellen Realität – so eine Umfrage des schweizerischen Bundesamtes für Statistik im Jahr 2019, an der fast 11’000 Personen teilnahmen. Auch dieses Resultat widerspricht der These, dass sich Religiosität und Spiritualität auflösen.
  • Noch spannender wird es, wenn man die «private, religiöse Praxis» betrachtet. Fragt man nach der Gebetspraxis, haben die Anteile der verschiedenen Frequenzen (täglich, wöchentlich, monatlich) zwischen 1988 und 2012 in der Schweiz zwar um 10 bis 15 Prozent abgenommen. Fragt man aber danach, wie oft sie über religiöse Fragen oder den Sinn des Lebens nachdenken, bleibt der Anteil derer, die das zumindest «selten» tun, konstant bei über 90 Prozent.
  • Besonders interessant: Danach gefragt, wie oft man Situationen erlebe, in denen man das Gefühl habe, dass Gott oder etwas Göttliches in sein Leben eingreife, geben 2017 rund 80 Prozent der Befragten an, dies zumindest selten zu erleben. Über 50 Prozent erleben das gelegentlich, oft oder sehr oft. Gegenüber zehn Jahre früher ist dieser Anteil um rund 7 Prozent gestiegen.

Was kann man aus diesen Beobachtungen schliessen – gerade auch für unsere Bewegung? Huber unterstreicht, dass diese Resultat nahelegen, dass von einer Auflösung der Religion nicht die Rede sein kann. Jedoch hat eine starke Individualisierung stattgefunden, welche die Menschen weg von den Institutionen treibt. Die Kunst der Kirchen ist es, mit Menschen über ihre Erfahrungen und Gedanken, die sie mit und über Gott durchaus machen (sogar in zunehmendem Masse), ins Gespräch zu kommen und sie da abzuholen.

Auch die Introvertierten im Blick haben

Im Vergleich zu den Landeskirchen hätten wir da, so Huber, einen markanten Vorsprung, da gerade die Erfahrungen in unserer Bewegung schon einen erheblichen Stellenwert hätten. Vielleicht wäre es jedoch, so Hubers Gedankenanstoss zum Schluss, ein Gewinn für die BewegungPlus, diese Erfahrungen nicht auf jene «typisch pentekostalen» Erfahrungen zu beschränken, an die eher extrovertierte Menschen andocken können, sondern auch Erfahrungen Gottes beispielsweise in der Stille und der Meditation Raum zu geben.

Dieser Text ist die Zusammenfassung eines Impulsreferats an der diesjährigen Pastorentagung. Die Folien mit den genauen Zahlen der Umfragen lassen sich hier herunterladen.