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Klagen
29 Nov 2022

«Gott, bleib nicht untätig!»

Das Leben führt uns und unsere Mitmenschen gelegentlich durch tiefe und dunkle Täler. Die Psalmen ermutigen zu einem ehrlichen Beten jenseits von Verstummen oder Beschönigen.

Während ich diese Zeilen schreibe, wohnen in unserem Gemeindegebäude gegen 40 Flüchtlinge aus der Ukraine. Frauen, Männer, Teenager und Kinder, die alle aus dem Kriegsgebiet fliehen mussten und nun bei uns in der Arche vorläufig ein neues Zuhause gefunden haben. Wie viele andere haben sie Schreckliches erlebt und nun mit Verlustängsten und Zukunftssorgen zu kämpfen. Irgendwie müssen sie einen Weg finden, um mit dem erfahrenen Unrecht und der immensen Not umzugehen.

Indem wir ihnen als Gemeinde einen sicheren Ort bieten und das Leben – und damit auch die Tränen, Sorgen und Herausforderungen – mit ihnen teilen, können wir ihnen ein Stück weit Trost und Hoffnung spenden. Es ist immer wieder berührend, ihre Dankbarkeit zu erleben und, Gott sei Dank, auch immer mal wieder ihr Lachen zu hören – trotz und in allem.

Ein Grund zur Klage!?

Leid, Not und Unrecht – wenn wir dies in unserem Leben erfahren, bleibt uns oft vieles, was uns im Gebet und in Worshipliedern früher noch leicht über die Lippen kam, plötzlich im Hals stecken. Stattdessen kann das tiefe, existentielle, quälende  Fragen in uns auslösen: Wo ist Gott? Warum greift er nicht ein? Warum schweigt er?Warum lässt er es überhaupt zu? Fragen, die uns gerade in der aktuellen Zeit mit ihrer Not und Ungewissheit immer mal wieder beschäftigen und innerlich aufwühlen.

Und doch sind es keine neuen Fragen. Schlagen wir die Bibel auf, entdecken wir ganz viele dieser Fragen, nicht zuletzt auch in den Psalmen, dem Lobpreis- und Gebetsbuch der Bibel.

Ist es nicht erstaunlich: Ein grosser Teil der Psalmen sind Klagelieder! Über die Hälfte sind Lieder und Liedteile, in denen die damaligen Songwriter und Gebetshelden ihren Gott nicht etwa lobten, ehrten und feierten, sondern ihm ihre Klage schonungslos ehrlich entgegenhielten. Wo sie Gott mitten in ihrem Leid, in ihrer Angst, den Zweifeln und der Verzweiflung aus tiefstem Herzen anriefen, ihn in die Pflicht nahmen und ihre ganze Not vor ihm ausbreiteten.

Erschreckend ehrlich

«Gott, bleib nicht untätig! Schweige nicht! Sieh doch nicht einfach tatenlos zu!» (Psalm 83,2). Dies ist ein kleines Beispiel von ganz vielen solchen Klageversen aus den Psalmen. Die Gebetssprache ist definitiv alles andere als immer nett, höflich oder formell zurückhaltend. Immer mal wieder sind es Texte, die uns innerlich fast aufschrecken lassen, weil sie so forsch und direkt an diesen Gott appellieren und ihn ohne Wenn und Aber in die Pflicht nehmen. Manchmal ist eben gar nichts gut! Und so ist auch die Gebetssprache in den Psalmen eine Sprache, die das ganze Leiden, die Ungerechtigkeit, den Schmerz und das manchmal fast unerträglich lange Warten auf Gottes Eingreifen nicht ausklammert oder geistlich nett überspielt, sondern die alle Fragen, Emotionen und Forderungen unerhört aufrichtig und komplett unbeschönigt vor Gott ausbreitet.

Auch wir kennen Momente und Situationen von Not, Angst und Leid. In diesen Zeiten steht auch bei uns nicht das Lob, sondern viel mehr die Klage an erster Stelle. Manchmal fühlt sich dein und mein Herz nicht glaubensvoll und ruhig, sondern mutlos, verängstigt und unsicher an. Statt Gottes machtvolles und souveränes Eingreifen erleben wir vielmehr sein unerträgliches Schweigen und Zuwarten. Manchmal überwiegen in uns nicht die Zuversicht und das Vertrauen auf Gott, sondern ernsthafte Zweifel, bohrende Fragen und ermüdende Irritationen nehmen unangenehm viel Raum in uns ein.

Was dann? Was beten wir in diesen Momenten? Welche Lieder singen wir? Wie reden wir mit unserem Gott? Gar nicht mehr? Oder gelingt es uns – vielleicht gerade mit Hilfe der Psalmen – eine Gebets-Sprache zu entdecken, die auch in solchen Zeiten etwas taugt, die uns auch dann trägt, uns hält und wieder zu Gott hinführt?

Von Lügen und Wahrheiten rund ums Klagen

Es gibt Dinge, die uns Christen das Klagen unsäglich schwermachen – und dies obwohl das Gebetsbuch der Bibel so klar zeigt, dass das Klagen genauso zu einer Gottesbeziehung gehört wie das Loben . Es ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch! Gesegnet der Glaube, der sowohl von ganzem Herzen Gott loben, ehren und feiern kann als auch seine ganzen Zweifel, Ängste, Irritationen und Fragen mit in die Beziehung mit Gott hineinnimmt und sie dort vor ihm ausbreitet.

Drei Lügen machen uns das Klagen immer mal wieder ganz schön schwer. Da braucht es dringend drei Wahrheiten, die wir diesen Lügen mutig und leidenschaftlich entgegenhalten und die in unserem Leben und Beten unbedingt die Überhand bekommen oder behalten sollten.

Lüge Nr. 1: Klagen ist ungeistliches Murren und Jammern

Nein! Denn wer einfach murrt und jammert, der redet in der Regel nicht mit Gott, sondern der redet über Gott. Er wendet sich in seiner Klage, Not und seinen Fragen nicht an Gott, sondern versinkt irgendwo im Selbstmitleid und Trübsal-Blasen. Echte Klage weiss, an wen man sich wenden darf. Deshalb gilt vielmehr:

Die Wahrheit: Klagen ist hochgeistliches Beten und Bitten!

Denn beim Klagen gehen wir mit all unseren Emotionen und Irritationen, aber auch mit unserer Sehnsucht dorthin, wo die zuständige Instanz unseres Lebens zu finden ist – nämlich zu Gott. Klage hat immer einen Adressaten, Murren und Jammern dagegen sind ziellos und ziehen uns letztlich von Gott weg. Wer bei Gott klagt, wendet sich an ihn, sucht ihn und lässt ihn auch im Dunklen und Verwirrenden nicht los.

Lüge Nr. 2: Klagen ist Ausdruck unserer Distanz zu Gott

Nein! Denn wer seine Klage und innerste Not schonungslos Gott hinhält, zeigt vielmehr seine tiefe und echte Beziehung zu diesem Gott. Jede Beziehung lebt davon, dass wir nicht oberflächlich nett zueinander sind, während in unserem Inneren ganz andere Gefühle und Gedanken kreisen. Unsere Ehebeziehungen leben davon, unsere Freundschaftsbeziehungen leben davon und auch unsere Gottesbeziehung lebt davon. Deshalb gilt:

Die Wahrheit: Klagen ist Ausdruck unserer Beziehung zu Gott!

gen zerstört oder beschmutzt unsere Beziehung zu Gott nicht. Im Gegenteil: Klage vertieft und festigt diese Beziehung, weil sie eben keine Lebenssituation und auch kein Lebensgefühl vor Gott ausklammert. Wer das ehrlich und aufrichtig tut, lebt echte und nahe Beziehung, nicht Distanz.

Lüge Nr. 3: Klagen offenbart unseren Unglauben

Vermutlich ist das die Lüge, die uns im Leben am meisten zu schaffen macht. Sollte ein vertrauensvoller Christ nicht jederzeit glaubensstark proklamieren, danken und beten können? Zeigt Klagen nicht, dass da tief in uns drin doch noch jede Menge Unglauben zu finden ist? Ich setze auch dem ein drittes klares «Nein!» entgegen. Denn Klagen offenbart nicht unseren Unglauben, sondern:

Die Wahrheit: Klagen offenbart unseren Glauben!

Wer klagt, tut dies immer mit der leisen, manchmal vielleicht auch sehr zaghaften und vorsichtigen Hoffnung, dass da Einer ist, der all dem, was man gerade erlebt, ein Ende setzen kann. Es gibt keine echte Klage ohne echten Glauben – denn warum sollte ich bei Gott klagen, wenn ich nicht glauben würde, dass ihm alle Macht gehört, dass er Herr ist und jederzeit souverän eingreifen kann? Klagen ist deshalb vielmehr Ausdruck des Glaubens und nicht des Unglaubens!

In unserem Unterwegs-Sein mit Gott gilt es, diese drei Wahrheiten nicht zu vergessen und damit den drei Lügen mit viel Überzeugung die Stirn zu bieten – sowohl im Umgang mit uns selbst wie auch im Umgang mit anderen Menschen um uns herum.

Gott als Sicherheit und Halt in allen Zeiten

In Zeiten von Leid, Ungerechtigkeit und Zweifeln sollten wir auf die grossen Fragen des Lebens keine billigen und vorschnellen Antworten geben. Was unsere Welt vielmehr braucht sind Menschen, die das Unrecht und die Not mit uns aushalten und die darin mit Worten, aber auch mit Taten, auf denjenigen hinweisen, der auch in diesen Zeiten unsere Sicherheit, Zuflucht und unser Halt sein will.

In der Arche heisst dies zurzeit, dass wir mit den Menschen aus der Ukraine ein Stück Weg gemeinsam gehen dürfen. Wir heissen sie bei uns willkommen, schaffen Raum und teilen mit ihnen ihre Fragen, Sorgen und Hoffnungen. Immer wieder sehen wir Tränen – und manchmal sind es auch Tränen der Dankbarkeit und Freude. Mitten im Elend und Verlust sind das Leben und die Liebe in unserer Mitte auf vielfältige Weise spür- und erlebbar. Es ist ein Privileg und ein Geschenk, Menschen auf diese Weise dienen zu dürfen, und ich bin begeistert davon, wie Gott durch Menschen wie uns wirkt und sich zeigt – immer mal wieder auch über den Weg der Klage. Denn die Klage ist definitiv einer der Wege zu ihm hin.