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21 Okt 2022

Mehr Lebensrelevanz bitte!

Soll eine Kirche Gesellschaftsrelevanz anstreben? Ich glaube nicht.

Wales 1904/05: Dort lebt und wirkt Evan Roberts. Ein einfacher Mann und Handwerker. Er ist beseelt von einem festen Glauben und will aktiv am Aufbau des Reiches Gottes mitwirken. Darum besuchte er eine Bibelschule und beginnt, das Evangelium zu predigen. Zur gleichen Zeit schenkt Gott eine Erweckung und Evan Roberts wird massgeblich darin involviert. Oliver Lutz schreibt später Folgendes darüber: «Bei der Erweckung in Wales sind in zehn Monaten rund 100’000 Menschen zum Glauben gekommen. Die ganze Gesellschaft wurde dadurch transformiert: Schulden wurden beglichen, Alkoholismus wurde erfolgreich bekämpft und die Kriminalität ging markant zurück.»

Die Sehnsucht nach Bedeutung

Die Erweckung von Wales gehört neben anderen Strömungen zu unseren Wurzeln als BewegungPlus (vergleiche dazu den Artikel «Unser Erbe» von Thomas Eggenberg). Sie hat somit indirekt bis heute mit uns zu tun – nicht nur historisch, sondern auch durch eine Sehnsucht, die ich bei vielen unter uns und auch bei mir selbst spüre. Die Sehnsucht, dass die Kirche wieder Aufbruch erlebt und neu Bedeutung für unsere Mitmenschen bekommt.

Die Kirche von Wales veränderte die Gesellschaft. Und nicht nur in Wales, auch bei uns in der Schweiz gab es eine Zeit, in der die Kirche durch Calvin und Zwingli eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben spielte, was auch ein Teil unseres Erbes ist. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Dass die Kirche wieder zu einer prägenden Instanz der Gesellschaft wird – davon träumen wahrscheinlich viele unter uns. Das wird für mich bei Abstimmungsdebatten sicht- und hörbar, wenn engagiert für christlich begründete Gesetze geweibelt und mit Vehemenz daran erinnert wird, dass wir doch ein christliches Land seien.

Dabei schwingt für mich oft etwas mit, das mich zögern lässt. Natürlich sollen wir von unserem Stimmrecht Gebrauch machen, aber ich erkenne in dieser Art «christlicher Politik» den Versuch, über strukturelle Macht – beispielsweise durch Abstimmungsergebnisse oder durch die Besetzung von politischen und gesellschaftlich bedeutenden Ämtern – Christen ins Spiel zu bringen und so das Christentum wieder als gesellschaftliche Kraft etablieren zu wollen.

Nicht über strukturelle Macht

Aber ist das der Weg? Da höre ich Jesus sagen: «Mir ist alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben.» Wenn wir das Leben von Jesus anschauen, sehen wir, dass Jesus gerade nicht mit irdischer Macht kam, um sein Reich zu bringen. «Mein Reich ist nicht von dieser Welt», antwortete er Pilatus.

Soll das heissen, dass wir uns nicht für soziale Reformen, politische Ämter oder das Beheben von Missständen engagieren sollen? Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich glaube jedoch nicht, dass wir über strukturelle Macht unseren Glauben verbreiten sollen. Die Geschichte hat nämlich gezeigt, dass der Kirche zu viel Macht nicht guttut. Wir sind nicht dazu berufen, die Gesellschaft zu verändern. Diesen Ruf habe ich von Jesus nie gehört. Vielmehr sind wir dazu berufen, in unserer Gesellschaft ein heiliges Leben zu führen und andere dabei zu unterstützen, Jüngerinnen und Jünger zu werden. Ein Mensch nach dem anderen soll mit dem Evangelium erreicht werden (wie bei der Erweckung in Wales), und nur dadurch werden sich Situationen am Arbeitsplatz, in Familien, Schulzimmern und politischen Stuben verändern.

Der einzelne Mensch im Fokus

Die Kirche sollte deshalb nicht zuerst die Gesellschaft, sondern den einzelnen Menschen im Blick haben. Die Gesellschaft als Gegenüber ist sowieso viel zu heterogen, als dass wir für sie ausreichend relevant sein könnten. Zudem suchen die Menschen, die mit uns in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und in der Familie zusammenleben (wenn sie denn etwas suchen), nach Lebensrelevanz.

Wir sollten uns daher nicht fragen, ob wir für die Gesellschaft, sondern für das Leben jener Menschen relevant sind, mit denen wir in Kontakt stehen. Denn Jesus ist «gekommen, damit sie das Leben haben» (Johannes 10,10). Mit der Frage, wie wir lebensrelevant sein können, kommen wir auf ganz andere Antworten. So widerstehen wir leichter der Versuchung, mit der Macht zu liebäugeln oder uns mainstreammässig anzubiedern, sondern werden gerade durch die radikale Ethik von Jesus, die in unserer Gesellschaft zurzeit ziemlich unpopulär ist, lebensrelevant für unsere Mitmenschen.

Doch wie können wir lebensrelevant sein, wenn gerade nicht Erweckung ist? Jesus fordert von uns nur eines: Treue in der Liebe. Lasst uns deshalb lieben, komme was wolle, und uns darin gegenseitig ermutigen. Den Rest vertrauen wir Gott an, bis er Erweckung schenkt.

 

Lies zu diesem Thema auch die Antwort von Markus Baumgartner, der sich für eine gesellschaftsrelevante Kirche stark macht.