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04_Intimität
14 Mai 2021

Verzweifelt gesucht: Intimität

Wenn es ums Alleinsein geht, wird als Antwort auf das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Intimität in der Regel an Ehe und Familie gedacht.

Klar, dass man darum jene bedauert, die ohne Ehepartner und Familie durchs Leben gehen. Einige irritierende Beobachtungen haben mich jedoch ins Grübeln gebracht: Wie viele erleben in ihrer Ehe und Familie eine schmerzliche Einsamkeit, die als doppelt belastend empfunden wird, weil man doch solche Gefühle als Verheiratete nicht haben sollte und kaum aussprechen darf. Andererseits begegne ich Menschen ohne Partner und ohne eigene Familie, die erfüllt und emotional gesättigt ihr Leben gestalten. Damit ich nicht missverstanden werde: Natürlich gibt es auch glückliche Ehen und Familien – und frustrierte Singles. Offensichtlich entscheiden aber weder Zivilstand noch Sexualität über das persönliche Lebensglück. Gleichzeitig hat mir ein Buch von Ed Shaw geholfen, Worte für meine Empfindungen zu finden und die eigentliche Herausforderung zu benennen: Die Gemeinde soll wieder ihre Bestimmung als Familie Gottes leben.

Verhängnisvolle Reduktion

Dass viele dieses «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!» mit der Ehe und der Kernfamilie in Verbindung bringen, hat natürlich auch mit dem biblischen Textzusammenhang zu tun. Nachdem Adam in Eva endlich jene Ergänzung gefunden hatte, die sein Alleinsein beendete, heisst es: «Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele» (1. Mose 2,24). Die Überzeugung, dass Ehe und Sexualität der einzige Weg seien, um dem Alleinsein die Stirn zu bieten, hat im Verlauf der Zeit zu einem verhängnisvollen Kurzschluss geführt: Intimität und Sexualität wurden immer mehr zu austauschbaren Begriffen.

Intimität und Sexualität

Inzwischen bin ich überzeugt: Intimität ist auch ohne Sexualität möglich, und Sexualität garantiert noch keine Intimität. Wir können zwar ohne ausgelebte Sexualität erfüllt leben, aber ohne Intimität verwahrlosen wir seelisch. Jesus war Single und konnte dennoch von einem «überfliessenden Leben» sprechen. David erlebt die Freundschaft zu Jonathan erfüllender als die Liebe zu Frauen, und Paulus ermutigt zu einem zölibatären Lebensstil (vgl. 2. Samuel 1,26; 1. Korinther 7,8). Nun stellt sich die entscheidende Frage: Wo und wie erleben wir lebensspendende Nähe, Zugehörigkeit, Liebe, Vertrautheit – und damit Intimität?

Eine neue Sicht auf die Gemeinde als Familie Gottes

Wenn es um die Prioritäten im eigenen Leben geht, höre ich immer wieder, dass nach Gott die Familie das Wichtigste sei und irgendwann komme dann die Gemeinde. Doch nach Jesus müssen Nachfolger von Jesus Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja ihr eigenes Leben «hassen» – so wenigstens im Grundtext (Lukas 14,26). Und geradezu brüskierend kann sein Hinweis – in der Gegenwart seiner Mutter und seiner leiblichen Brüder – auf die ihn umgebenden Jüngerinnen und Jünger verstanden werden: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter (Markus 3,35).

Natürlich ist Jesus nicht gegen die Familie, und er ruft auch nicht zu Hass auf (vgl. Markus 7,9-13). Seine radikale Sprache macht aber auf einen zentralen Anspruch aufmerksam: Das Reich Gottes, das sich in der Kirche als familiäres Miteinander aller geistlichen Brüder und Schwestern verkörpern will, ist der eigenen Ehe und Familie vorgeordnet. Unsere Ehen und Familien sollen und dürfen in etwas Grösseres eingebettet sein: in die Gemeinde als Familie Gottes. Diese Sichtweise schwächt unsere Kernfamilien nicht, sondern entlastet sie letztlich.

Entlastung für Ehen und Familien

Wie oft überfordern wir unsere Ehen und Familien mit unseren gegenseitigen Erwartungen und Ansprüchen nach Intimität und Glück. Ja, als Ehepartner können wir einander viel geben, aber gleichzeitig leiden wir auch an unserer begrenzten Liebesfähigkeit. Klar ist, dass die Sexualität exklusiver Teil der Ehe bleiben soll. Da aber nie ein einzelner Mensch alle unsere Bedürfnisse abdecken kann, brauchen wir ein Netz von freundschaftlich-intimen Beziehungen, in denen alle Gebende und Nehmende sind. Wie entlastend und unterstützend ist es für Mütter und Väter, die öfters an ihre Grenzen stossen, wenn ihre Kinder von Menschen aus der Gemeinde mütterlich-väterlich unterstützt werden! Lasst uns «Familie» wieder grösser denken und leben! Gemeinde als Familie Gottes birgt noch so viel zu entdeckendes Potenzial: Sie will neu als Ort befreiender und heilsamer Intimität gewagt und erlebt werden.