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Zwischen-Moralin
07 Mai 2024

Zwischen Moralapostel und «Anything goes»

Was wir von Paulus für den Umgang mit dem Gesetz und das Gewinnen von Menschen in unserer Zeit lernen können.

Nach anfänglich massivem Widerstand erkannte Paulus Jesus als Sohn Gottes und Herrn. Aufgewachsen als gesetzestreuer Jude, erfuhr er in Jesus eine neue Freiheit. Gleichzeitig erhielt er den Auftrag, diese Freiheit nicht nur für sich zu geniessen, sondern das Evangelium von Jesus Christus allen Menschen weiterzugeben – Juden und Griechen. So wurde er zum «Missionar» – wörtlich «Gesendeten»  – mit Leib und Seele, Herz und Verstand. Einen zentralen Einblick in seine Gedanken erhalten wir in 1. Korinther 9, 19-23. Diesen Versen werde ich im Folgenden entlanggehen, denn daraus lassen sich erstaunliche Parallelen zu unserer Zeit ziehen.

«Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich so viele wie möglich gewinne» (Vers 19). Paulus war frei, er schuldete den Menschen nichts. Jesus hatte ihn von Menschengefälligkeit und Suche nach Anerkennung frei gemacht. Was andere über ihn dachten, war für ihn unwichtig. Doch er hatte ein Ziel: so viele Menschen wie möglich für Gott und sein Reich zu gewinnen. Deshalb war es ihm nicht egal, wie Menschen auf ihn reagierten. Er wollte Brücken bauen, den Menschen dienen und dabei unnötigen Anstoss vermeiden. Dabei war ihm sehr wohl bewusst, dass das Kreuz ein Ärgernis ist, das nicht vermieden werden kann. Ein gekreuzigter Messias war für die einen ein Skandal und für die anderen blosser Blödsinn (1. Korinther 1,23). Dieser Anstoss liess sich offenbar nicht vermeiden, auch wenn sich für die Glaubenden gerade darin Gottes Kraft und Weisheit offenbarte (1. Korinther 1,24). Im Umgang mit dem Gesetz jedoch, da wollte Paulus Vorurteile vermeiden und Brücken bauen.

Mit oder ohne Gesetz?

Er achtete darauf, was für sein Gegenüber wichtig war. Dabei teilte er die damalige Gesellschaft in zwei Gruppen ein, die sich fundamental voneinander unterschieden. Auf der eine Seite waren die Juden, die mit dem Gesetz lebten und sich zum Volk Gottes zählten, welchem die Schriften anvertraut sind und das den Willen Gottes kennt (oder kennen sollte). Auf der anderen Seite waren die «Heiden»: die Völker, die Griechen, denen das Gesetz nicht vertraut war und die den Willen Gottes weder kannten noch befolgten. Die Unterscheidung in diese zwei Hauptgruppen spielte nun in der Verkündigung des Evangeliums von Paulus eine wichtige Rolle, selbst wenn der Weg zur Rettung für beide nur in Christus zu finden war (Römer 3,21-30). Wer beispielsweise den Römerbrief aufmerksam liest, begegnet diesen beiden Gruppen auf Schritt und Tritt.

«Ich bin den Juden wie ein Jude geworden, damit ich Juden gewinne; denen, die unter Gesetz sind, wie einer unter Gesetz – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, welche unter dem Gesetz sind, gewinne» (Vers 20). Zuerst ging es Paulus um das Gewinnen von Juden, für die das Gesetz (die Torah und das Altes Testament) von grosser Bedeutung war. Sie liessen sich beschneiden, hielten sich an die Reinigungs- und Essensvorschriften und selbstverständlich auch an die 10 Gebote (wenn auch oft nur äusserlich). Weil Paulus sie gewinnen wollte, hielt er sich – zumindest ihnen gegenüber – an die gesetzlichen Vorschriften. So liess er beispielsweise Timotheus beschneiden, damit die Juden keinen Anstoss daran nahmen.

«Denen, die ohne Gesetz sind, wie einer ohne Gesetz – obwohl ich nicht ohne Gesetz vor Gott bin, sondern im Gesetz Christi –, damit ich die, welche ohne Gesetz sind, gewinne» (Vers 21).

Nun kam Paulus auf die Griechen zu sprechen. Sie lebten ohne das Gesetz und orientierten sich an sich selbst und ihrer Freiheit. Davon war das Miteinander in der damaligen Gesellschaft geprägt: Jeder suchte seinen eigenen Vorteil, es gab viele Intrigen und Machtkämpfe, und die Schwachen kamen unter die Räder.

Paulus passte sich ihnen insofern an, als dass er die religiösen Pflichten seiner Tradition links liegen liess und seine Freiheit vom Gesetz zeigte. Doch er war deswegen nicht gesetzlos unterwegs, sondern «im Gesetz Christi». Damit wird klar, dass seine Freiheit nicht grenzenlos war, sondern dass er sich der Herrschaft Christi unterordnete. Gerade im Dialog mit den Korinthern wies er immer wieder darauf hin, dass die Freiheit vom Gesetz nicht bedeutete, dass man alles tun und lassen kann. Vielmehr behielt die Schrift – im Sinn von Jesus verstanden – sehr wohl eine richtungsweisende Funktion.

Zwischen den Fronten

Nun wissen wir von den ersten Gemeinden, dass genau diese zwei Kulturen auch innerhalb der ersten Gemeinden für grosse Spannungen sorgten. Da gab es jüdische Nachfolger von Jesus, die auf der genauen Einhaltung des Gesetzes inklusive Beschneidung und Essensvorschriften beharrten, sowie nicht-jüdische Christen, die das Gesetz nicht gekannt hatten und keinen Grund sahen, sich ihre früheren Freiheiten nehmen zu lassen.

Paulus wehrte sich gegen beide Seiten hin. Im Galaterbrief kämpfte er leidenschaftlich dafür, dass die dortigen Christen nicht wieder unter das Gesetz geraten. Er hielt die Forderung nach einer Beschneidung der Griechen für einen Rückfall: als Versuch, sich durch das Halten des Gesetzes vor Gott zu rechtfertigen. Weil aber die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, durch den Glauben an Jesus Christus zu uns komme, seien wir nicht mehr «unter dem Gesetz», sondern «unter der Gnade» (Galater 2,16-21). Jesus selbst war unter dem Gesetz, um uns durch seinen Gehorsam vom Gesetz loszukaufen (Galater 4,4&5).

Spannung zwischen Schwarzweiss und Chaos Spannung zwischen Schwarzweiss und Chaos

Das bedeutete für Paulus allerdings nicht, dass – gemäss dem Motto «es ist alles erlaubt»– das Gesetz nichts mehr zu sagen hätte. Statt «ohne Gesetz» oder «unter dem Gesetz» plädierte Paulus für eine dritte Option und nannte dies, «im Gesetz Christi» zu sein. Im Gesetz Christi zu sein heisst, sich in der Nachfolge Christi selbst zu verleugnen und sein Joch tragen. Es bedeutet, gemäss Gottes Geist zu leben und das «Fleisch», also die Ichbezogenheit, zu «töten» (Galater 5,16-26). Gerade den Korinthern, die in einem Umfeld der Gesetzlosigkeit lebten, führte Paulus zahlreiche Missstände vor Augen und lehrte sie, nach Gottes Willen gemäss der Schrift zu leben.

Parallelen zu heute

Warum ist das alles so wichtig? Weil wir deutliche Parallelen zu unserer Zeit ziehen können. Zum einen gegen innen für uns als christliche Gemeinschaften: In unserer freikirchlichen Tradition gab es immer wieder Tendenzen, unter das Gesetz zu geraten. Die Bibel wurde als neues Gesetz verstanden, das es gnadenlos zu halten gilt. Wenn jemand frisch zum Glauben kam, gab es vielleicht noch Gnade, aber dann wurde, unter Androhung von Gericht und Strafe, Gehorsam gefordert. Gegen diese Tendenzen steht noch immer der Hinweis auf Paulus, dass wir nicht unter dem Gesetz sind, sondern unter der Gnade.

Gleichzeitig stossen wir auf eine andere Tendenz unter uns, die von Teilen unserer Gesellschaft lauthals gefordert wird: ohne Gesetz zu leben. Der Mensch soll tun, wonach er sich fühlt und was ihm – wenn er damit andere nicht schädigt – richtig scheint. Doch das Kriterium der Nichtschädigung ist zu wenig. Vielmehr sind wir dazu aufgefordert, im Gesetz Christi zu leben, das heisst, in der Nachfolge von Jesus zu sein, den Willen Gottes zu tun, Gott und den Nächsten gemäss der Schrift zu lieben und so das Gesetz zu erfüllen. Nicht aus Angst oder Gesetzlichkeit, sondern weil wir Kinder Gottes sind und sein Geist in uns wirkt.

Ein gesellschaftliches Phänomen

Auch in der heutigen Gesellschaft finden wir diese beiden «Lager». Tendenziell ist es so, dass die Linken, Progressiven ein Leben ohne Gesetz (alles ist okay) und die Rechten, Konservativen ein Leben unter dem Gesetz (richtig und falsch sind noch klar) fordern. In der Haltung von Paulus können wir nun den Linken Linke sein – im Wissen, dass wir nicht ohne, aber im Gesetz Christi sind – und den Rechten Rechte sein – im Wissen, dass wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind.

Schliesslich hilft uns diese Zweipoligkeit, uns der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft zu verweigern. Je mehr Menschen sich in ihrer Bubble bewegen und dort bloss die eigene Überzeugung bestätigt erhalten (sei es «ohne das Gesetz» oder «unter dem Gesetz»), desto schwieriger wird das Zusammenleben. Und wenn es keine Gnade mehr gibt, dann werden auch die Linken gesetzlich, wenn es um ihre Überzeugungen geht, und die Rechten gesetzlos, wenn es um ihre persönliche Freiheit geht.

Eines haben wir der Gesellschaft hoffentlich voraus: Wir wissen, wie bedeutsam es ist, unter der Gnade zu sein und wie Jesus zu lieben. In einer Gesellschaft, in der die Dimension der Gnade und der Liebe rückläufig ist, werden die Grabenkämpfe und die gegenseitige Verurteilung weiter zunehmen. Daran wollen wir uns nicht beteiligen. Dabei wissen wir, dass die Lösung nicht einfach in der Mitte zwischen den Polen liegt, sondern in Christus und im Evangelium seiner Gnade. Deshalb bleibt das Ziel all unserer Bemühungen nicht primär Vermittlung, sondern wir wollen «möglichst viele gewinnen» oder mindestens «einige retten». Jedenfalls ist es dies, womit Paulus seinen Abschnitt schliesst:

«Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Ich tue aber alles um des Evangeliums willen, um an ihm Anteil zu bekommen» (Vers 22&23).