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1_thun
03 Mai 2021

Trudi und Willy

Sonntagmorgen, 9.55 Uhr. Trudi Trötzli marschiert zackig durch das Foyer der Kirche.

Den Unterschriftenbogen zur Volksinitiative «Klare Trennung von Kirche und Staat!» hat sie fest zwischen die Finger mit unlackierten Nägeln geklemmt. Sie freut sich über die heutige Tageslosung: «In der Welt herrschen …, aber so soll es unter euch nicht sein.» (Matthäus 20,25-26) Den Mittelteil hat sie vergessen. Ob der Lobpreisleiter heute endlich ihren Liederwunsch «Sei ein lebend’ger Fisch, schwimme doch gegen den Strom» berücksichtigt? Das würde sie zumindest ein wenig darüber hinwegtrösten, dass der Gottesdienst neu erst um zehn Uhr beginnt – aus «Anbiederung an den gottlosen Lebensstil der Welt», wie sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu wettern pflegt. Beim Hinsetzen vorne rechts fragt sie sich, wann wohl das letzte Mal über die Hölle gepredigt wurde.

Gleichzeitig schleicht sich Willy Windfahne in den Saal. Er ist unauffällig, aber sehr trendbewusst gekleidet. Sein Lieblingsvers «Allen bin ich alles geworden, um jedenfalls einige zu retten» (1. Korinther 9,22) flimmert als Hintergrundbild über sein Handydisplay, als er sein Volxbibel-App öffnet. Er arbeitet im sozialdiakonischen Team der Kirche mit und hat die Initiierung von niederschwelligen Gottesdiensten angeregt, in denen statt von «Sünde» eher von «dunklen Stellen im Herzen» gesprochen wird. Überhaupt sucht er nach Wegen, das Evangelium in neue Worte zu fassen, damit es seine Nachbarn besser verstehen. Auf seinem Stammplatz hinten links tippt er eine Notiz in seinen Kalender: Er will der Gemeindeleitung vorschlagen, sich am interreligiösen Gottesdienst des Dorfes zu beteiligen.

Die Pastorin Lara begrüsst die Gemeinde. Sie bemüht sich, sowohl Willy als auch Trudi im Blickfeld zu haben, und staunt darüber, dass die zwei bald ihre goldene Hochzeit feiern werden.